AUTORITÄRE DYNAMIKEN IN DEUTSCHLAND
Vom 13. bis 15. Oktober 2023 fand auf der HEGGE eine Tagung zum Thema „Autoritäre Dynamiken in Deutschland“ unter der Leitung von Dr. Sandra Legge Heggestatt.
Zur Tagung waren insgesamt 6 Referentinnen und Referenten für 7 Einheiten geladen:
Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer
Wilhelm Heitmeyer ist Gründer und von 1996 bis 2013 Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Zuletzt war er als Senior Professor tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Theorie sozialer Desintegration, Gewalt, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus. Er war unter anderem Editor-in-Chief des International Journal of Conflict and Violence und ist Autor und Herausgeber zahlreicher Schriften. Zuletzt erschienen in 2018 „Autoritäre Versuchungen“, Berlin: Suhrkamp, in 2020 zusammen mit Manuela Freiheit und Peter Sitzer „Rechte Bedrohungsallianzen“, Berlin: Suhrkamp und in 2022 als Herausgeber zusammen mit Günter Frankenberg: „Treiber des Autoritären. Pfade von Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“, Campus.
Prof. Dr. Gert Pickel
Gert Pickel ist Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Religionssoziologie, der Demokratie-, der Jugend- und der politischen Kulturforschung. Derzeit arbeitet er verstärkt zur Thematik religiöser kollektiver Identitäten und deren Bezüge zu politischen Identitäten sowie zu Rechtspopulismus, Rechtsextremismus und antimuslimischen Rassismus. Gert Pickel ist stellvertretender Sprecher des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig, Sprecher des Forschungsbereichs Populismus und Globalisierungskritik des Leipzig Research Centre Global Dynamics sowie einer der Leiter des Leipziger Standortes des Wissensnetzwerks Rechtsextremismusforschung.
Prof.in Dr. Susanne Pickel
Susanne Pickel ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Vergleichende Politikwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Demokratieforschung, Wahlforschung, Politische Einstellungs- und politische Kulturforschung, Transformationsforschung, Empirische Sozialforschung, Methoden der Datenerhebung und -analyse. Sie ist Projektleiterin und -koordinatorin des interdisziplinären Verbundprojekts: „Radikaler Islam versus Radikaler Anti-Islam“(gefördert vom BMBF). Zu Ihren Veröffentlichungen zählen u.a. Amnesie, Amnestie oder Aufarbeitung? Zum Umgang mit autoritärer Vergangenheit und Menschenrechtsverletzungen. (Hrsg., zus. mit Siegmar Schmidt/Gert Pickel) Wiesbaden, 2009
Prof.in Dr. Johanna Rahner
Johanna Rahner ist römisch-katholische Theologin und Hochschullehrerin für Dogmatik und Dogmengeschichte sowie Ökumenische Theologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seit 2019 ist Johanna Rahner Mitherausgeberin der Reihe Quaestiones disputatae. Von 2020 bis 2023 war sie Vorsitzende des Katholisch-Theologischen Fakultätentages. Seit April 2021 ist sie zugewähltes Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK). Zu ihren jüngsten Veröffentlichungen in 2023 zählt u.a. Kirchliche Sexualmoral vor dem Abgrund? Herder Verlag.
David Aderholz, M.A. Politische Theorie
David Aderholz ist Politologe und schreibt eine Dissertation zum Thema „Extrem rechte Zugriffe auf die Arbeitswelt“. Er ist assoziiertes Mitglied am Else-Frenkel-Brunswik Institut. Mit einer Untersuchung zu Umgangsformen von IGM Betriebsräten mit extrem rechten Herausforderungen im Betrieb ist er an der aktuellen Leipziger Autoritarismus-Studie beteiligt. Er ist seit vielen Jahren in der antifaschistischen und demokratiefördernden Erwachsenenbildung und Beratung insbesondere für das Netzwerk für Demokratie und Courage aktiv. Seit 2016 ist er überdies systemischer Berater.
Anna Maria Weber
Anna Maria Weber ist ehemalige Lehrerin, Entwicklungsbegleiterin für Menschen und Organisationen und seit 2015 im Leitungsteam von ACT e.V. Dort ist sie für die Bereiche Öffentlichkeitsarbeit und Teamentwicklung verantwortlich. Bis 2015 war sie Lehrerin für Biologie und Geschichte (Sek I und II) und begleitete Schulen im Auftrag des Senats in der Unterrichtsentwicklung (Umgang mit Heterogenität). Seit 2015 bietet sie bundesweit Veranstaltungen zum Veto-Prinzip an und arbeitet für ACT als Workshopleiterin in unterschiedlichsten Veranstaltungsformaten und Altersgruppen. 2020 entwickelte sie den Prozess zur Zertifizierung von Veto-Trainer*innen und unterstützt Teams bei der Gestaltung von Prozessen und Handlungsweisen, die von der Integrität jedes einzelnen Menschen ausgeht.







Eröffnung der Tagung durch Dr. Sandra Legge_Autoritäre Dynamiken in Deutschland
Einführungsvortrag in das Thema durch Prof. Wilhelm Heitmeyer
Radikaler Islam - Radikaler Anti-Islam.Cemal Öztürk
Unsere Referentinnen Prof. Johanna Rahner und David Aderholz mit Oberin Dorothee Mann, Die Hegge und Dr. Sandra Legge
Unsere Referentin Anna Maria Weber mit Frau Anna
Anna Maria Weber erklärt das Mischpult
Das Veto-Prinzip..oder wie komme ich aus dem Land des inneren Gehorsams ins Land der inneren Freiheit
Die Einführungseinheit übernahm Prof. Wilhelm Heitmeyer. In seinem Vortrag „Krisen und Kontrollverluste – Gelegenheitsstrukturen für Treiber autoritärer gesellschaftlicher Entwicklungspfade“ zeigte er auf, dass die aktuellen autoritären Strömungen, wie u.a. an dem Erfolg der AfD zu beobachten, nicht als kurzfristige Reaktionen auf gesellschaftliche Entwicklungen zu verstehen sind. Anhand eines Analyseschemas, angelehnt an sein Buch „Autoritäre Versuchungen“ (2018), zeigt Heitmeyer auf, dass die Auslöser autoritärer Dynamiken weiter zurück liegen. Ihren Ursprung nehmen sie mit dem Beginn des wirtschaftlichen Neoliberalismus und sind durch die verschiedenen gesellschaftlichen und globalen Krisen weiterbefördert worden (9/11, Banken- und Finanzkrise, Corona, Klimakrise, Kriege etc.). Aus diesen hervorgehend nimmt ein immer größer werdender Teil, so Heitmeyer, individuelle Kontrollverluste war, die zunehmend autoritären Versuchungen weichen.
In der weiteren Diskussion wurde intensiv darüber diskutiert, was den derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklungen entgegengesetzt werden kann. Heitmeyer rekurrierte in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Bedeutung der sozialen Integration (durch Mitgliedschaft in Vereinen, Verbänden etc.).
Am Abend referierte Cemal Öztürk, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen, über erste Ergebnisse aus dem Projekt „Radikaler Islam – Radikaler Antiislam“. Aufgrund einer Erkrankung schaltete er sich online dazu. Im Rahmen des Vortrags wurde herausgearbeitet, wie sich ablehnende Gruppen in einer Gesellschaft zum gegenseitigen Radikalisierungsprozess beitragen. Auch die Doppelfunktion, die Religion für muslimische Jugendliche einnimmt (als Merkmal von Ausgrenzung in der Mehrheitsgesellschaft, als identitätsstiftendes Merkmal in der Eigengruppe), wurde herausgestellt. Es wurde intensiv diskutiert, an welchen Stellen im Radikalisierungsprozess die Spirale unterbrochen werden kann. In diesem Zusammenhang spielte die Reduktion von Vorurteilen und Diskriminierung gegenüber Menschen muslimischen Glaubens in der deutschen Gesellschaft ebenso eine Rolle, wie die Schaffung alternativer Anerkennungsquellen und eine „echte“ Integrationsmöglichkeit von Menschen mit Zuwanderungsbiografie zu schaffen.
Die Einheit am nächsten Morgen wurde von Prof. Pickel und seiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Emma Aouragh von der Universität Leipzig gestaltet. Beide waren online zugeschaltet. Thematisch ging es um die Identifikation individueller und institutionell angelegter rassistischer und autoritärer Strukturen in deutschen Behörden (am Beispiel des Jobcenters). Beide Referenten rekurrierten auf aktuelle wissenschaftliche Ergebnisse aus dem mit Bundesmitteln finanzierten Projekt „Rassismus in Institutionen (InRa)“.
Es wurde zum einen deutlich herausgearbeitet, dass individueller und institutionell verankerter Rassismus nicht immer trennscharf von einander unterschieden werden können. In diesem Zusammenhang wurde von einzelnen TN auf die Bedeutung hingewiesen, frühzeitig gegen individuelle Ressentiments zu arbeiten. Es wurde intensiv diskutiert, ob und inwiefern Schule das leisten kann.
Im Weiteren stellten Prof. Pickel und seine Kollegin mögliche präventive Ansätze im Rahmen von Behörden vor, die mit den TN diskutiert wurden. Die Umsetzbarkeit, wie die Rotation von Mitarbeitern, regelmäßige Supervision etc. stand dabei im Mittelpunkt der Diskussion. Auch die Frage, wie motivierte Mitarbeiter*innen besonders gestärkt werden können, wurde ausgiebig erörtert.
Am Samstagnachmittag berichtete Prof. Johanna Rahner über autoritäre Strukturen in religiösen Institutionen, die in christlicher Tradition stehen. Dazu rekurrierte sie zunächst auf das „alte Europa“, kam dann auf die Entwicklungen der „Kirche des Südens“ (insb. neopentekostale Gemeinschaften) sowie denen in der USA zu sprechen. Den Abschluss ihres Vortrags bildete der Blick auf die deutschen Verhältnisse, wobei sie ihre ursprüngliche Idee, Deutschland als Vorbild der Resilienz zu präsentieren, nach den gehörten Inhalten des Vortrags von Wilhelm Heitmeyer mit einem Fragezeichen versehen hat. Im Rahmen der sich anschließenden Diskussion wurde von den TN unter anderen danach gefragt, wo die katholische Kirche im europäischen Raum besonders anfällig ist für die politische Rechte. Auch wurde von den TN nachgefragt, wie und warum Deutschland durch das kooperative Verständnis des Verhältnisses von Religion und Staat weniger anfällig ist, dominant antimodernistisch zu werden.
Nach einer kurzen Pause hat David Aderholz, assoziiertes Mitglied am Else-Brunswick-Institut des Universität Leipzig die aktuellen Ergebnisse aus einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage der sog. Autoritarismus-Studie vorgestellt. Insbesondere die Angleichung abwertender Einstellungen gegenüber sog. schwachen Gruppen zwischen Ost und West sowie dem Ergebnis, dass nicht nur Menschen in Kreisen mit einer hohen Arbeitslosenquote, einem geringen Frauen- und Ausländeranteil häufiger abwertende Einstellungen berichten, sondern auch dann, wenn sie aus Kreisen mit einem hohen Haushaltseinkommen (bei gleichzeitig hoher kollektiv wahrgenommener Deprivation) sind, hat die TN sehr bewegt und entsprechend ins Diskutieren gebracht. Ebenfalls kritisch nachgefragt wurde, warum Ost/West in der Wissenschaft immer noch als Analysekategorie genutzt wird.
Nach dem Abendessen gab es eine weitere Einheit mit David Aderholz, in der er im Rahmen seines Dissertationsprojektes von einer Untersuchung von politisch rechten Betriebsräten in einem großen Automobilunternehmen berichtete. Insbesondere interessierten sich die TN für die Fragen, wie sich der Einfluss der rechten Betriebsräte im Arbeitsalltag zeigt, wie die Belegschaft darauf reagiert und welche Möglichkeiten es gibt, die politisch rechten Betriebsräte mit ihren leeren Versprechungen zu überführen.
Der Sonntag begann mit dem Gottesdienst. Hr. Auffenberg hat im Rahmen der Messe das Thema der Tagung explizit aufgenommen und am Beispiel von Bonhoeffer an die immer beständige Möglichkeit der individuellen Gegenwehr mit Blick auf die erstarkenden autoritären Dynamiken in Deutschland, aber auch weltweit, hingewiesen.
Den Abschluss der Tagung bildete eine Trainingseinheit aus dem „Veto-Prinzip“. Anna Maria Weber, Trainerin und Geschäftsführerin von ACT e.V. stellte zunächst die Geschichte von Veto sowie die damit verbundenen Ziele kurz vor. Es geht insbesondere um die Förderung der ICH-Stärke und um Sensibilisierung für ungleiche Machtverhältnisse (Es geht darum vom „Land des inneren Gehorsams“ in das „Land der inneren Freiheit“ zu gelangen). Auf spielerische Art und Weise wurde den TN das Veto-Prinzip nähergebracht. Entsprechend hatten die TN die Möglichkeit, sich und ihre Grenzen auszutesten. Diese Einheit verursachte anfangs einige Irritationen, wurde letztlich von den TN aber als sehr gewinnbringend bewertet. Unabhängig davon war diese Einheit allein deshalb wichtig, weil sie Mut machte, dass es trotz der derzeitigen gesellschaftspolitischen Entwicklungen in Deutschland genügend Spielraum gibt, sich für die Demokratie stark zu machen!
Siehe auch den Beitrag von Anna Maria Weber: https://mailchi.mp/5bd9a1f088c3/act-newsletter-einladung-zu-den-auffhrungen-6216871?e=c1